A review by kroppzeugvertilger
Mein Herz so weiß by Elke Wehr, Javier Marías

5.0

Glück hat man, wenn das Buch, welches man in Händen hält, Substanz hat. Noch glücklicher darf man sich jedoch schätzen, wenn die erhoffte Gelehrtheit des Autors in genau jene Substanz ergossen wird. Dass Javier Mariás einst Literaturwissenschaft und Philosophie studierte, wird in Mein Herz so weiß auf beinahe sensationelle Weise deutlich.

So begeistert Mariás' Durchbruchsroman mittels exakt zweier Attribute: Sprachlicher Finesse und philosophischer Durchschlagskraft.

Mein Herz so weiß kann guten Gewissens als verkopft bezeichnet werden, spiegelt sich doch alle Handlung im Kopf des Ich-Erzählers, Juan, wider. Dabei wird ein derart authentischer Gedankencharakter gezeichnet, dass die verschachtelten Sätze beinahe bernhard'sche Züge tragen. (Teils ur-) plötzliche Orts- und Zeitwechsel des somit nichtlinearen Plots - völlig kapitelunabhängig zudem - machen den Eindruck der echten und nicht eben literarischen Figur superb.
Juan, wie gehabt, Ich-Erzähler und zudem Dolmetscher, also quasi selbsterklärter Sprach-Fetischist, reflektiert über die Geschehnisse um ihn herum, seine engsten Mitmenschen, deren Vergangenheit usw. dass es eine wahre existenzialistische Freude ist. Kostprobe gefällig?

"Jede Beziehung zwischen Menschen ist immer eine Ansammlung von Problemen, Auseinandersetzungen, auch von Kränkungen und Demütigungen. Jeder zwingt jeden, nicht so sehr, etwas zu tun, was er nicht will, als etwas zu tun, von dem er nicht weiß, ob er es will, denn fast niemand weiß, was er nicht will, und noch weniger, was er will, es ist nicht möglich, das zu wissen. Wenn niemand jemals zu etwas gezwungen würde, würde die Welt zum Stillstand kommen, alles würde in einer globalen, anhaltenden Unentschiedenheit schweben, endlos."

... ganz großes Tennis! Es passiert tatsächlich nur alle Jubeljahre mal, dass mir ein Roman in die Finger gerät oder, wie in diesem Fall, geschenkt wird, der mit solch philosophischer Wucht daherkommt. Dank gebührt an dieser Stelle der Schenkenden.

Was Mein Herz so weiß als intellektuellen Roman abrundet, ist aber der grobe Blick aufs Werk selbst. Alle sprachliche Qualität genau wie das reflektorisch-philosophische Gedankennetzwerk sind in ein gewissermaßen kriminalliterarisches Fachwerk eingefügt. Immerhin ergründet Juan die erschreckende Vergangenheit seines Vaters und somit seinerselbst. Und ja, es wurde jemand umgebracht.
Mariás gelingt aber der respekteinflößende Kniff, das Buch erst nach dem ersten Lesen und somit der Auflösung des behandelten Geheimnisses seine volle Kraft entfalten zu lassen. Der plot twist, der eigentlich keiner ist, lässt den Leser realisieren, dass der Weg zur Auflösung die eigentliche Detektivarbeit ist, das Nachsinnen über die während des gesamten Prozesses angestoßenen Gedanken die eigentliche Befriedigung der eigenen Neugier darstellt. Eine Peripetie außerhalb der Handlung, ja selbst außerhalb der rezipierten Zeilen sozusagen; fantastisch!

Hieraus resultiert sodann nicht nur ein reges Interesse an Mariás' weiteren Werken, nein, ich bin fest davon überzeugt, dass Mein Herz so weiß beim zweiten Durchgang sogar noch tiefer geht, noch mehr fasziniert und beschäftigt. Womit es als philosophische Belletristik problemlos seine Bestimmung erfüllen wird.