A review by kroppzeugvertilger
Girl, Woman, Other by Bernardine Evaristo

3.0

[3,5/5]

Das Dilemma des Zeitgeists ist, dass er stets nur retrospektiv wirklich beurteilt werden kann. Niemand kann prophezeien, welches Maß an Verantwortung das vermeintliche Statut absoluter Freiheit birgt. Insofern sind gesellschaftliche Entwicklungen als das zu verstehen, was sie sind: Entwicklungen ohne fixen Anfang - und genau so wenig fixen Endes.

Was Evaristo mittels eines exakten Dutzends an Geschichten von 12 Frauen meist afro-britischen Hintergrunds erzählt, wird mit exakt der Inbrunst behandelt, die obig erwähnte Unsicherheiten brauchen: nämlich Normalität. Sie rücken das Wesen Mensch in den Mittelpunkt.

Auch wenn Girl, Woman, Other als Roman verkauft wird, er ist es eigentlich nicht. Viel mehr handelt es sich um 12 Kurzgeschichten, deren jeweilige Hauptfiguren lose miteinander verwoben sind. Hier mag man natürlich gerne Kalkül des Verlags vermuten, denn Romane verkaufen sich bekanntlich besser - und Romane solchen Themas natürlich noch viel mehr ...

Allerdings - und darum geht es ja letztlich: Evaristo kann ganz formidabel Personen zeichnen! In ihren Sternmomenten schafft sie's gar, Ergriffenheit und Identifikation bei den Menschen zu erzeugen, an welchen sich die Progressivität unserer Kulturgesellschaft normalerweise bis zur Unkenntlichkeit abschabt. Und das ist auch die zwingende Programmatik des Buches: Wie kann man sich als Weißer in den 2010ern POC nähern; wie kann man sich identitätspolitischen Auseinandersetzungen nähern; wie kann man sich der eigenen Historie und folglich der eigenen historischen wie alltäglichen Verantwortung stellen?

Wichtig zu erwähnen, denke ich, ist, dass dieses Buch beinahe gänzlich ohne Großschreibung und Interpunktion auskommt. Sicherlich ein Kniff der Autorin, auch auf der Metaebene zu versuchen, Gewohnheiten (...) abzutragen. Dem Lesevergnügen selbst ging's jedenfalls nicht zu Schaden. Im Gegenteil, die eigene Bockstarrigkeit bzgl. Grammatik und Orthographie mal für `ne Weile abzulegen, war eigentlich ganz schön (zumal dabei fast ein sanfter Bernhard'scher Hauch durch die Lektüre wehte ...) Ob das langfristig als Stilmittel in Kombination mit quasi tagesaktuellen gesellschaftspolitischen Diskursen funktioniert, bleibt allerdings zu bezweifeln.

Grundsätzlich würde eine Lektüre von Girl, Woman, Other niemandem schaden. Noch grundsätzlicher wöllte man, dass progressverweigernde Halbnazis sowas lesen. Allerdings lesen die sowieso schon nich', nich' viel oder nur Schund. Sei's drum, die Welt in ihrem Lauf hält selbst die hinterländlichste CDU-Pappnase nich' auf. Evaristo wird bestehen und noch viel, viel mehr zu schreiben haben! Ich gehe definitiv davon aus - und werde Augen und Ohren danach offen halten!