A review by kroppzeugvertilger
11.22.63 by Stephen King

4.0

Warum nennt Frau Grube ihre Tochter nich' Claire?
Warum nennt Frau Turner ihre Tochter nich' Page?*

Höhö.

So, den ice breaker hätten wir im Sack, nun zum eigentlichen Thema:

Das letzte Mal, dass ich mir einen King zu Gemüte führte, das muss - oje - 2005 gewesen sein (Es). Und auch wenn mir die Lektüre zwar schon damals durchaus zusagte, blieb die große Begeisterung aus; und da es sich hierbei bereits um mein drittes (na gut, zweieinhalbtes - Stark hatte ich nie ausgelesen) Intermezzo mit dem Meister handelte, hielt sich mein Enthusiasmus in den darauf folgenden Jahren in Grenzen. Überraschenderweise entwickelte jedoch eine mir sehr nahestehende Person in der letzten halben Dekade eine Vorliebe für King, die natürlich auch an mir nicht spurlos vorübergehen konnte. Und so landete 11.22.63 nach einer begeisterten Empfehlung zuerst im Bücherregal und knapp ein Jahr später auf dem Nachtschränkchen ...

Und tatsächlich bin ich nach 11.22.63 noch genauso King-angefixt wie schon währenddessen. Dabei würde ich (in der deutschen Übersetzung) Den Anschlag gar nicht mal als klassischen *page turner bezeichnen wollen. Das hat vor allem zwei Gründe:

1. Die Handlung: Wenn mich das Thema Zeitreisen im Allgemeinen schon durchaus reizt, musste ich während der 740 Seiten irgendwann feststellen, dass mich jüngere US-amerikanische Geschichte irgendwie nur so semi interessiert. Das ist vielleicht ignorant, aber irgendwie assoziiere ich damit eher 'nen Blockbuster am Sonntag oder 'ne Folge ZDF History, als die allabendliche Schmökerstunde.

2. Die handelnden Personen: Der Ich-Erzähler, Jake Epping alias George Amberson, ist schon beinahe das Klischee eines tadellosen Helden. Er ist gebildet und bescheiden, draufgängerisch und bedacht, mitfühlend und kämpferisch, romantisch und aufregend, etc. etc. Ob King hier bewusst überzeichnen wollte, weiß ich nicht. Die radikale, ja, übermenschliche Tugendhaftigkeit, mit welcher die Hauptfigur versehen wurde, hat mich in ihrer Realitätsferne jedoch irgendwann etwas verärgert bzw. genervt. Wenn Epping/Amberson, nachdem er die Packung seines Lebens erhalten hat, noch die Chuzpe besitzt, einen Satz wie: "Wanda's too tall for you, Roth. And too skinny. When you're on top of her, you must look like a toad trying to fuck a log." seinem Peiniger entgegenmurmelt, dann ist mir das einfach 'ne Portion zu viel John McClane (der hat wenigstens noch bei seiner Frau verkackt).

Richtiggehend dröge Passagen schlichen sich darüberhinaus (Achtung, leichter Spoiler!) bei der Observation Lee Harvey Oswalds ein. Gewiss, jede gute Story lebt von einem ordentlichen Schuss Voyeurismus (oder wird dadurch vielleicht sogar erst gut, kann auch sein), aber dieser blasse Unsympath blieb über weite Strecken eher meh als bäh.

Und trotzdem bin ich begeistert. Warum? Ziemlich einfach:

1. Flow: Wie King schreibt, ist schlicht und ergreifend zum Niederknien! Selten habe ich solch einen Sog, solch einen in sich schlüssigen Fluss an Wörtern bei der Lektüre eines Buches erfahren. Zumal im Englischen! Egal, an welcher Stelle der Handlung man sich gerade befindet, ob es einen interessiert oder nicht, ob man in einer besonders spannenden oder eher gemächlichen Passage steckt: Wie King erzählt, ist einfach meisterhaft! So meisterhaft und so einnehmend, dass ich mir im vergangenen Monat gleich drei weitere Schinken zugelegt habe, haha.

2. Querverweise: Was mir, trotz des Wissens darüber, dass King's Romane stets in Maine spielen, nicht bewusst war, sind obligatorische Querverweise auf andere Werke. So begegnet man im ersten Drittel von 11.22.63 tatsächlich einer gewissen Beverly Marsh und findet sich in Derry wieder, dem Schauplatz seines wohl bekanntesten Werks, Es. Das verleiht dem Ganzen eine universelle Note (einem Kosmos wie dem von Tolkien gar nicht mal unähnlich), die dem Bösen, dem Unerklärlichen eine gewisse Außerweltlichkeit, ein je ne sais quoi, das man sich bei Lovecraft stets erhofft und es trotzdem niemals findet, zukommen lässt und die eigene Phantasie auf famose Weise anregt.

3. Humor: Alldieweil streut King äußerst amüsante Spitzen. Ganz ehrlich, eine Passage wie: "As Kennedy entered, waving to the standing audience, an elderly gentleman in an Alpine hat and lederhosen struck up 'Hail to the Chief' on an accordion bigger than he was. The president did a double take, then lifted both hands in an amiable holy shit gesture." ist einfach königlich (ha!) witzig, weil absurd.

Auch, dass King offenbar dazu neigt, den jeweiligen Schluss seiner Romane zu vergeigen, kann ich bei 11.22.63 (so mal gar) nicht bestätigen. Hier fehlt mir aber ggf. eine aktuelle Referenz.

Alles in allem bin ich, wie gehabt, angefixt. Sehr angefixt. So sehr angefixt, dass ich mir vorstellen könnte, King zu einem der Autoren zu erheben, die regelmäßig auf eingangs erwähntem Nachtschränkchen sitzen werden. Die Vorfreude aufs nächste Werk (es gibt ja Unmengen) ist jetzt schon riesig. Danke für die tolle Empfehlung, A!